Mittwoch, 30. März 2011

Stufen

Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in and're, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten!
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen!
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden:
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(Hermann Hesse)

Sonntag, 27. März 2011

Ritus

Deutschlands ältestes Lichtspielhaus offen für alle Welt. Überall blättert die Farbe von den Wänden, der Boden im Parkett fällt zur Bühne hin schräg ab, im ersten Rang stehen Scheinwerfer. Hier könnte sich ein Opernphantom auch noch so richtig wohl fühlen.
Der Boden besteht aus Grobspanplatten, die über einen unebenen Boden gespannt zu sein scheinen. Als die Lichtspiele vorbei sind, setzt die Musik ein. "Baikaltrain" schimpft sich der ganze Abend. Es dauert kaum eine halbe Stunde und eine Art Phänomen setzt ein.
Die Luft ist stickig, Nebelmaschine, Zigarettenrauch, Schweiß und noch so einiges mehr. Die Musik ist laut, ein schneller treibender Rythmus mit schweren und schwächeren Bässen hält die Leute in Bewegung. Und dann- von einem Wimpernschlag zun nächsten tanzt aufeinmal alles. Der Bass ist im ganzen Körper spürbar, die Masse springt und stampft wie ein einziges Wesen, lässt eden Boden im Takt federn. Das Gefühl, wie keltische Druiden in Trance um das Feuer zu tanzen, lösgelöst.

Mittwoch, 16. März 2011

Make an educated guess

Dämmerung

Ich halte meine Augen halb geschlossen,
Graumütig ist mein Herz und wolkenreich.
Ich suche eine Hand, der meinen gleich...
Mich hat das Leben, ich hab es verstoßen
Und lebe angstvoll nun im Übergroßen
Im irdischen Leibe schon im Himmelreich.
Und in der Flühe war ich blütenreich
Und über Nacht froh aufgeschossen,
Vom Zauber eines Traumes übergossen –
Nun färben meine Wangen meine Spiegel bleich.


Nun schlummert meine Seele

Der Sturm hat ihre Stämme gefällt,
O, meine Seele war ein Wald.

Hast du mich weinen gehört?
Weil deine Augen bang geöffnet stehn.
Sterne streuen Nacht
In mein vergossenes Blut.

Nun schlummert meine Seele
Zagend auf Zehen.

O, meine Seele war ein Wald;
Palmen schatteten,
An den Ästen hing die Liebe.
Tröste meine Seele im Schlummer.



Hingabe

Ich sehe mir die Bilderreihen der Wolken an,
Bis sie zerfließen und enthüllen ihre blaue Bahn.

Ich schwebe einsamlich die Welten all hinan,
Entzifferte die Sternoglyphen und die Mondeszeichen um den Mann.

Und fragte selbst mich scheu, ob oder wann
Ich einst geboren wurde und gestorben dann?

Mit einem Kleid aus Zweifel war ich angetan,
Das greises Leid geweiht für mich am Zeitrad spann.

Und jedes Bild, das ich von dieser Welt gewann,
Verlor ich doppelt, und auch das was ich ersann.




(Else Lasker- Schüler)